Ehrlichkeit versus Inkompetenz


    Teil 1


    Geschätzte Leserinnen und Leser

    (Bild: zVg)

    Diejenigen unter Ihnen, die meine Rubrik schon gelesen haben werden es wissen: Auch dieser Fall ist aus dem realen Alltag. Es ist wohlgemerkt kein Ausnahmefall, leider. Immer öfter werden wir mit solchen Situationen konfrontiert und gefordert.

    Im November habe ich einen Patienten erstmals wegen Handgelenksschmerzen untersucht, einen 50-jährigen, selbstständig erwerbenden, schwer manuell tätigen Mann.

    Ein eigentliches Unfallereignis war dem Patienten nicht bekannt. Die Beschwerden sind aber im Mai aufgetreten, unmittelbar nachdem der Patient mehrere etwa 50 kg schwere Behälter gehoben hatte. Wie so oft wurden die Schmerzen heruntergespielt und da man ja nicht wegen jedem «Bobo» gleich zum Arzt rennt, hat der Patient auf die Zähne gebissen und weiter gearbeitet. Als nun die Schmerzen nach über zwei Monaten nicht von sich aus verschwunden sind, wollte der Patient zum Hausarzt. Dieser war aber in den Ferien und die erste Untersuchung dort fand erst Anfang August statt. Es wurde auch eine MRI Untersuchung des Handgelenks angeordnet, welche einen breitflächigen Riss einer Bandstruktur aufzeigte. Ein Versuch mit Schonung und Ruhigstellung hat keine relevante Besserung gebracht, so dass der Patient an mich weitergewiesen wurde. Da bei mir die Sprechstunden übervoll waren und ich dann ebenfalls noch abwesend war, war erst ein Termin Anfang November möglich.

    Bei der Untersuchung fand ich einen sehr netten Mann, der seinen Beruf gerne ausübt und fleissig und verantwortungsvoll seiner Arbeit nachgeht. So einen Typ, der halt nicht gerne zum Arzt geht und erst nach mehreren Aufforderungen durch seine Frau endlich den Schritt zum Arzt unternimmt. Es hätte ja schon wehgetan, aber damit könne man doch irgendwie arbeiten – und er habe sein eigenes Geschäft….
    Vielleicht erkennt sich der eine oder andere in unserem Patienten.

    Für mich war die Diagnose klinisch eindeutig und wurde noch durch den radiologischen Befund bestätigt. Auf Grund meiner Kenntnisse und meiner Einschätzung musste ein unfallähnliches Ereignis stattgefunden haben, welches zum Riss der besagten Struktur im Handgelenk geführt hat. Sei es nun durch einen Schlag oder durch eine Verdrehung. Also fragte ich und bohrte nach. Und ja, es hätte ihm die Hand verdreht, als ihm ein Behälter aus der Hand geglitten sei und er nachfasste. Aber das sei ja nicht so schlimm. Beim Hausarzt hat er dies gar nicht erwähnt, weil es ihm nicht wichtig erschien. Den Hausarzt hat er nur deshalb aufgesucht, weil die Beschwerden auch nach längerer Zeit immer noch nicht weg waren.
    Entschuldigen Sie, liebe Leserinnen und Leser, dass ich so ausführlich berichte und «nicht zum Punkt» komme. Es ist hier aber äusserst wichtig, dass Sie den Patienten als Mensch einschätzen können und die Umstände und den zeitlichen Ablauf kennen.
    Mit dem Patienten habe ich genau die Operationstechnik vereinbart, welche ich üblicherweise bei solchen unfallbedingten Veränderungen durchführe. Fairerweise muss ich anfügen, dass es auch alters- und abnützungsbedingte (d.h. krankheitsbedingte) Veränderungen an der gleichen Struktur gibt, welche ich aber anders therapieren würde.
    Der Fall wurde der Unfallversicherung gemeldet. Und jetzt kommt der Stein so richtig ins Rollen! Halten Sie sich fest: «Rock’n’Roll Baby!!!»

    Da das Unfallgeschehen bei meiner Erstuntersuchung mehr als drei Monate zurück lag, wurde mein Bericht an den Vertrauensarzt der Unfallversicherung weitergeleitet.

    Dieser hat, lediglich auf Grund der Akten, das Unfallgeschehen und die damit verbundenen Beschwerden verneint, ja direkt abgeschmettert!

    Mit folgenden Argumenten: Das Ereignis sei ohne Unfallmerkmale erfolgt. Die stark verzögerte ärztliche Erstbehandlung spreche gegen ein Unfallereignis. Im Rahmen der hausärztlichen Untersuchung ist kein unfallähnliches Ereignis erwähnt worden. Es würden sämtliche Brückensymptome fehlen (darunter versteht man die Beschwerden, welche zwischen dem Ereignis und dem ersten Arztbesuch fortbestehen) und die MRI Befunde zeigen ausschliesslich degenerative (=abnützungsbedingte) Veränderungen (darauf, dass ein RISS beschrieben wird, geht man gar nicht ein) und somit lasse sich eine Unfallkausalität zwischen dem Ereignis und den später festgestellten Veränderungen sicher ausschliessen.

    In Bezug auf die Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit nahm der Vertrauensarzt auch Stellung: die Behandlungsmassnahmen waren und sind unfallkausal nicht erforderlich! Wohlgemerkt handelt es sich beim Vertrauensarzt nicht um einen Handchirurg.

    Man kann nun der Einfachheit halber die Entscheidung des Vertrauensarztes akzeptieren. Es wurde alles formal begründet und damit hat sich’s.

    Die Aufgabe des Vertrauensarztes ist, wenn möglich, alle Argumente zu liefern, welche gegen ein Unfallgeschehen sprechen. Das wurde hier formell getan. Damit ist die Versicherung von ihren Leistungen entbunden und der Fall läuft kostenmässig über die Krankenversicherung, die wir ja alle haben und für die wir alle doch genug Prämien bezahlen!

    Ob die Argumentation in diesem Fall nun tatsächlich stimmt oder nicht, möchte ich Ihrer persönlichen Beurteilung überlassen. Auch, ob diese Praktik zu einer Reduktion der Krankenkassenprämie beitragen würde.

    Wenn Sie wissen wollen, wie es weiter geht, lesen Sie die Fortsetzung in der nächsten Ausgabe.

    Dr. med. Voja Lazic, Präsident VABP,
    Vorstandsmitglied SBV/ASMI

    Teil 2: Ehrlichkeit versus Inkompetenz

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