«Das Anschaffen eines Tieres ist oft zu einfach!»

    Am 4. Oktober war der Welttierschutztag. Astrid Becker, Präsidentin des Aargauischen Tierschutzvereins, der das Tierheim in Untersiggenthal betreibt, ist mit ihrem Team tagtäglich im Einsatz für das Wohlergehen und den Schutz der Tiere. Sie gibt uns einen Überblick über ein nicht ganz einfaches Jahr im Schatten der Pandemie im Tierheim in Untersiggenthal. Sie erinnert einmal mehr daran, sich die Anschaffung eines Haustieres mit allen Vor- und Nachteilen gründlich zu überlegen. Von der Politik fordert sie, endlich eine Kastrations- und Chippflicht bei den Katzen einzuführen.

    (Bild: zVg) Der Aargauische Tierschutzverein ATs hat in diesem Jahr bereits gegen 100 Verzichtskatzen und über 90 Findelkatzen eingefangen und aufgenommen.

    Wie jedes Jahr werden Hunderte Tiere ausgesetzt. Besonders im Sommer wird es eng in Schweizer Tierheimen. Wie sieht es momentan bei Ihnen aus?
    Astrid Becker: In diesem Jahr haben wir bereits gegen 100 Verzichtskatzen und über 90 Findelkatzen eingefangen und aufgenommen. Wir bekommen mehrere Anrufe pro Woche, bei welchen die Leute ihre Katzen und Hunde bei uns abgeben wollen. Interessant ist, dass die Hunde teilweise sehr jung sind – also ein- oder zweijährig – und leider teilweise auch nicht sozialisiert. Auch bei den Katzen fällt auf, dass viele Katzenmütter, die wir einfangen, ganz jung sind. Weil sie nicht kastriert sind, haben viele Nachwuchs bekommen. Diese Katzen sind absolut nicht scheu, teilweise lassen sie sich schon nach ein paar Tagen streicheln. Sie haben also schon Menschenkontakt gehabt. Ob diese Katzen ausgesetzt wurden oder weggelaufen sind, können wir allerdings nicht genau sagen, da sie nicht gechippt sind. Mit einer Chippflicht könnten wir die Besitzer eruieren und belangen!

    Wie respektive warum kommen die Tiere zu Ihnen ins Tierheim?
    Da gibt es verschiedene Gründe: Die Leute reagieren allergisch auf Tierhaare, ein Umzug und in der neuen Wohnung sind Tiere nicht erlaubt. Oder die Katze ist unsauber – was allerdings meistens einen Grund hat –, Geldsorgen oder die Tiere passen nicht in die Ferienpläne!

    (Bild: zVg) Astrid Becker: «Man bestellt sich per Mausklick ein Tier, ohne sich gross über die Bedürfnisse dieses Lebewesens Gedanken zu machen.»

    Die Sommerferien sind längstens vorbei, viele Leute sind weggeflogen. Spüren Sie die Nachwehen der Pandemie im Tierheim?
    Wenn die Leute wieder im Büro arbeiten müssen und kein Homeoffice mehr haben, bleibt keine Zeit mehr für den Hund. Während der Coronazeit haben einige unüberlegt einen Hund angeschafft. Wir haben täglich ein bis zwei Anrufe von Personen, die ihren jungen Hund abgeben möchten.

    Viele scheinen kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie ihre Tiere aussetzen oder ins Tierheim bringen. Warum sind Menschen so gefühlskalt gegenüber Tieren?
    Es kann immer Notfälle oder Schicksalsschläge geben, die dazu führen, ein Tier im Tierheim abzugeben. Dies sind zum Teil emotionale Momente für Mensch und Tier. Aber das Aussetzen von Tieren ist nie ein «Kavaliersdelikt». Gemäss Tierschutzgesetz ist dies verboten. Bei gewissen Menschen verkommt das Tier auch zum schicken «Accessoires». Unsere Wegwerfgesellschaft nach dem Motto «wenn man etwas nicht mehr braucht, wird es entsorgt», macht leider auch vor Lebewesen keinen Halt.

    Was tun Sie, wenn das Tierheim an seine Belastungsgrenze stösst?
    Wir bitten die Leute bei anderen Tierheimen nachzufragen. Wenn sie gar keine Lösung finden, sollen sie sich jedoch wieder melden. Wir versuchen wirklich zu helfen. Wenn wir aber keinen Platz haben und keine Lösung finden, müssen wir den Leuten absagen oder sie auf später vertrösten – es bleibt uns da nichts anders übrig. Wir haben noch Pflegestellen, die wenige Katzen aufnehmen können. Man sollte aber beachten, dass Pflegestellen «bewirtschaftet» werden müssen, und das ist ein grosser zeitlicher Arbeitsaufwand.

    Besonders oft werden Katzen ausgesetzt, die Zahl der ausgesetzten Katzen steigt jährlich. Ist es einfacher Katzen auszusetzen?
    Hunde aussetzten ist viel schwieriger, weil die meisten Hunde gechipt sind, da hier eine Chip-Pflicht besteht. Daher ist es ein Leichtes, Katzen oder Kaninchen etc. auszusetzen, weil es für diese Tiere keine Chip- Pflicht gibt. So können diese Tierarten keinem Besitzer oder Halter zugeordnet werden.

    (Bild: pixabay) Ein Hund muss in den Lebensentwurf passen – denn jeder Hund benötigt entsprechend Zuwendung und Zeit.

    Sie vermitteln seit längerer Zeit unter dem Titel «Happy Senior Cat» vermehrt alte, kranke Findel- oder Verzichtskatzen. Funktioniert das gut – wer adoptiert Senior Cats und welche Bedingungen müssen da erfüllt sein?
    Happy Senior Dog und Cat sind meistens alte oder ältere Tiere oder Tiere, die eine chronische Krankheit haben und lebenslang auf Medikamente angewiesen sind. Für diese Tiere suchen wir ein schönes, liebevolles Zuhause für ihren Lebensabend. Die Katzen werden nicht vermittelt, sie bleiben im Besitz des ATs. Das heisst, der ATs bleibt für die Tierarztkosten zuständig und ist auch weiter in Kontakt mit den Pflegefamilien.

    Ich habe das Gefühl, seit der Pandemie hat fast jede Zweite oder jeder Zweiter einen Hund. Oftmals sind diese Hunde schlecht erzogen etc. Was hat es mit den sogenannten «Corona-Hunden» auf sich?
    Ein Hund muss in den Lebensentwurf passen – denn jeder Hund benötigt entsprechend Zuwendung und ist sehr zeitintensiv. Ohne regelmässige Spaziergänge, Beschäftigung, liebevolle Erziehung etc. geht es nicht. Oft sieht man Hunde, die gemäss ihrem Verhalten nicht in einer Hundeschule waren und daher auch sehr schlecht sozialisiert wurden. (Teilweise waren die Hundeschulen wegen der Pandemie geschlossen).

    Welche Auswirkung hat die Konsumgesellschaft auf den Umgang mit Haustieren?
    Das Anschaffen eines Tieres ist oft zu einfach. Per Mausklick bestellt man sich ein Tier, ohne sich gross über die Bedürfnisse diese Lebewesens Gedanken zu machen. Man konsumiert, ohne sich beraten zu lassen. Wenn man dann realisiert wieviel Arbeit man mit der Haltung eines Haustieres auf sich nehmen muss, ist es oft zu spät. Die Leidtragenden sind dann die Tiere.

    Was müsste geschehen, damit es kein ausgesetztes Tier oder überfüllte Tierheime mehr gibt. Muss da die Politik in die Pflicht genommen werden oder was fordern Sie?
    Wir fordern wie alle Tierschutzorganisationen, dringend eine Kastrations- und Chippflicht bei den Katzen. Es ist an der Zeit, dass sich die Politik dem Katzenelend annimmt und die geeigneten Massnahmen ergreift.

    Möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern noch etwas auf den Weg geben?
    Bevor Sie ein Haustier anschaffen, informieren Sie sich zuerst bei Fachleuten, was die Anforderungen sind und welche Bedürfnisse so ein Tier hat und entscheiden Sie sich erst nach gründlichem Eruieren der Vor- und Nachteile!

    Interview: Corinne Remund


    ATs Tätigkeiten 2021 auf einen Blick

    Im letzten Jahr hat der Aargauische Tierschutzverein ATs im Tierheim in Untersiggenthal insgesamt 472 Tiere aufgenommen. Die Kosten für Pflege und Betreuung, Kastrationen, tierärztliche Behandlungen, Impfungen, Operationen etc. waren sehr kostenintensiv. Insgesamt wurde 154 Tierschutzfälle gemeldet mit 746 betroffenen Tieren. Bei der Bearbeitung wurden sowohl nicht gravierende Haltungsmängel als auch grobe Verstösse gegen das Tierschutzgesetz festgestellt.

    Oft war Unwissenheit oder Überforderung der Grund für die Haltungsfehler. Durch gezielte Beratung und/oder einen Besuch der Tierschutzbeauftragten konnten viele Haltungsmängel verbessert werden oder es wurde auf die Tiere verzichtet. Bei 90 Fällen musste der Kantonale Veterinärdienst hinzugezogen werden.

    Die Mitarbeiter der ATs-Katzengruppe haben sich im 2021 bei den vernachlässigten, verwilderten und herrenlosen Katzenbeständen um 209 Fälle gekümmert. Betroffen waren insgesamt 679 Tiere (Findel- und Verzichtskatzen, sowie herrenlose Katzen) davon 480 Erwachsene und 199 Katzenwelpen. Alle wurden, wenn nötig, tierärztlich versorgt und kastriert und die weitere Betreuung / Pflege / Fütterung wurde sichergestellt. Leider mussten 24 Katzen euthanasiert werden und 142 kranke oder verletzte Katzen wurden im ATs-Tierheim oder auf Pflegestellen gesund gepflegt. Für 32 scheue, herrenlose Katzen konnten wir schöne Plätze im Grünen finden, was jedoch jeweils eine grosse Herausforderung darstellt. Um all die Katzenfälle zu lösen, werden von den sieben Mitarbeitenden in der Katzengruppe in einem Jahr rund 19’000 km gefahren und ca. 960 Stunden aufgewendet.

    www.tierschutz-aargau.ch

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