Armut ist in der Schweiz alltäglich

    Regina Jäggi aus Aarau Rohr ist seit rund zwei Jahren Präsidentin der Winterhilfe Aargau. Im letzten Jahr hat die soziale Organisation rund 190‘000 Franken finanzielle Armutsprävention geleistet. Mit viel Herzblut, sozialem Wissen und Engagement setzt sich die ehemalige Aarauer Stadträtin Regina Jäggi, Präsidentin der Winterhilfe Aargau, dafür ein, finanzielle Notlagen von armutsbetroffenen Menschen zu überbrücken. Es ist ihr ein grosses Anliegen, die Bevölkerung für die oft versteckte Armut in der Schweiz zu sensibilisieren.

    (Bilder: zVg) Regina Jäggi, die Präsidentin der Winterhilfe Aargau, möchte die soziale Organisation noch bekannter machen.

    Sie sind seit dem September 2017 Präsidentin der Winterhilfe Aargau. Was bedeutet Ihnen dieses Amt?
    Regina Jäggi: Sehr viel, da es mir Freude bereitet, Menschen rasch, unkompliziert und direkt Hilfe zu leisten.

    Wieso brauchte es die Winterhilfe in der Schweiz?
    Da muss ich ein wenig ausholen – in den 30iger Jahren herrschte in der Schweiz eine Wirtschaftskrise. Im Winter 1935/36 waren über 100’000 Menschen arbeitslos. Da machte sich besonders in den Wintermonaten die finanzielle Notlage bemerkbar. Die Gefahr zu erfrieren oder zu verhungern war gross. Unter der Ägide des Bundesrates zusammen mit namhaften Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, Industrie und Politik wurde die «Schweizerische Winterhilfe für Arbeitslose» gegründet und Geld gesammelt. Damit konnte vielen notleidenden Familien und vor allem älteren Alleinstehenden über den Winter geholfen werden. Nach dem Ausbruch des 2. Weltkriegs wurde eine weitere Sammlung zusammen mit der Schweizerischen Kriegsfürsorge unter der Bezeichnung «Kriegs-Winterhilfe» durchgeführt. Danach konzentrierte sich das Hilfswerk nicht mehr nur auf die Wintermonate, sondern wurde ganzjährig aktiv. Der Name ist jedoch geblieben.

    Die Winterhilfe wurde vor über 80 Jahren mit dem Ziel gegründet, die Armut in der Schweiz zu bekämpfen. Wie steht es mit der Armut im Kanton Aargau?
    Leider kennen wir auch im 21. Jahrhundert Wirtschaftskrisen mit ihren anhaltend negativen Auswirkungen. Die tragen dazu bei, dass die Zahl der Menschen, die in Haushalten mit ungenügenden Arbeitseinkommen und in prekären Verhältnissen leben müssen, ansteigt. Diese Menschen können grundlegende Bedürfnisse nicht befriedigen und sind weitgehend vom sozialen Leben ausgeschlossen. Da ist der Kanton Aargau genauso betroffen, wie die anderen Kantone auch. Gerade im letzten Geschäftsjahr und jetzt im laufenden konnten wir eine Steigerung der Gesuche beobachten.

    Wie sieht das vielfältige Engagement der Winterhilfe aus?
    Die Winterhilfe überbrückt dringende finanzielle Notlagen mit Unterstützungsleistungen wirksam und entlastet somit gezielt knappe Haushaltsbudgets. Sie übernimmt zum Beispiel auch Beiträge für Aus- und Weiterbildungen, Mitgliederbeiträge für Sportclubs oder ähnliches für Kinder, stellt Betten mit Duvets und Bettwäsche zur Verfügung, verschickt Kleiderpakete, übernimmt Gesundheitskosten (Zahnarzt oder Arztrechnungen), ermöglicht Ferien und bereitet Freude mit den Geschenkgutscheinen zu Weihnachten.

    Wie viele Gesuche bekommt die Winterhilfe Aargau jährlich?
    Im letzten Geschäftsjahr waren dies rund 560 Gesuche.

    In welchen Bereichen liegen die dringlichsten Anliegen?
    Bei den Gesundheitskosten, Wohnkosten inkl. Bettenhilfe und Aus- und Weiterbildungen.

    Was sind die Kriterien, ob finanzielle Mittel gesprochen werden können?
    Ganz wichtig ist, dass von den Gesuchstellenden das Antragsformular korrekt ausgefüllt wird und die benötigten Unterlagen beigelegt werden. So kann ein Gesuch rasch bearbeitet werden. Es muss ersichtlich sein, dass eine begründete Notsituation vorliegt. Es werden keine Kosten übernommen, die eindeutig von der öffentlichen Sozialhilfe geleistet werden müssen.

    Auch in der Schweiz gibt es viele arme Menschen: Die Winterhilfe hilft dringend finanzielle Notlagen zu überbrücken. Hier das Plakat der Winterhilfe von 2009

    Woher schöpft die Winterhilfe Aargau ihre Mittel und wie viel steht jährlich zur Verfügung?
    Die Winterhilfe ist zu 100 Prozent durch Spenden finanziert, das heisst, dass jährlich zwei bis drei Spendenaufrufe erfolgen. Daneben durften wir aber auch zusätzliche Spenden und Legate entgegennehmen.
    Im letzten Geschäftsjahr haben wir für rund 190’000 Franken (Winterhilfe Aargau) finanzielle Unterstützung geleistet.

    Hat die Winterhilfe Aargau für die kommenden Jahre spezielle Projekte?
    Da möchte ich ein Projekt erwähnen, das nur von der Winterhilfe Aargau lanciert wurde. Es handelt sich dabei um Beiträge, die an Ergänzungsleistungs-Beziehende gewährt werden. Es sind drei Gruppen, die dafür in Frage kommen: Personen in Heimen, Personen in Familienpflege und Personen über 65 Jahre in eigenen Wohnsituationen. Bei den ersten beiden Gruppen entsteht trotz Ergänzungsleistung (aufgrund Pauschlabeiträgen) ein Fehlbetrag. So verbleiben keine Mittel beispielsweise für Verkehrsauslagen für Besuche bei Angehörigen, kleine Geschenke, erhöhten Kleider-Schuhbedarf, Grabpflege von Angehörigen u.ä. Bei der 2. Gruppe gewährt die Ergänzungsleistung mit Pauschalen die Miet-/Hypothekenkosten und dazu eine Nebenpauschale. Dies reicht jedoch oft nicht aus, um immer wieder ergänzende Mittel, zum Beispiel für Heizmaterial (im Alter erfahrungsgemäss in Folge der persönlichen Empfindlichkeiten) zu bezahlen. Mit diesem Projekt kann auch der Altersarmut entgegengewirkt werden.

    Ein besonderes Anliegen ist der Winterhilfe die Starthilfe für Kinder. Wie sieht diese aus?
    Armutsprävention beginnt bereits im Kindesalter, denn Armut ist vererbbar. Auch wenn die Eltern in der Regel die eigenen Bedürfnisse zu Gunsten der Kinder zurückstellen, beeinträchtigt Armut im Kindesalter die Entwicklungsmöglichkeiten. Deshalb ist es der Winterhilfe ein Anliegen, hier zu helfen. Sei dies mit einem Kindergartentäschli, Schulthek oder allgemeiner Schulausrüstung, es kann auch ein Velo sein, ein Mitgliederbeitrag für einen Verein oder ein PC. Im Weiteren gibt es das Förderprogramm der Roger Federer-Stiftung, die sportlich oder musisch begabte Kinder fördert. Dafür gibt es ein spezielles Gesuchsformular.

    Die Winterhilfe ist sehr gut vernetzt. Mit welchen Partnern arbeiten Sie zusammen?
    Wie vorher erwähnt, die Roger Federer-Stiftung, die Caritas (Kleiderpakete), COOP Schweiz (Einkaufsgutscheine), REKA für Ferienangebote, «Tischlein deck dich» (Lebensmittel) und andere öffentliche Institutionen und Sozialdienste.

    Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie in den rund zwei Jahren als Präsidentin gemacht?
    Durchwegs gute. Der Vorstand der Winterhilfe Aargau arbeitet sehr effizient, ist ausgestattet mit einem grossen sozialen Wissen und hat sehr viel Herz. Die vielen Dankesbriefe, Karten oder Zeichnungen, die wir bekommen, zeigen auf, dass wir vielen Menschen eine Freude machen können.

    Wie gehen Sie emotional mit diesen (finanziellen) Notlagen um?
    Ich stelle immer wieder fest, dass es sehr viele armutsbetroffene Menschen rund um uns alle gibt und das stimmt mich traurig. Es wäre zu wünschen, dass diese Anzahl nicht noch weiter zunimmt – was ich leider befürchte.

    Was wünschen Sie sich persönlich für die Winterhilfe Aargau?
    Es wäre schön, wenn die Winterhilfe noch bekannter würde und den Menschen bewusst wird, dass Armut in der Schweiz alltäglich ist. Den Notleidenden Mut machen, sich bei der Winterhilfe Aargau zu melden, denn für sie sind wir da.

    Interview: Corinne Remund

    Winterhilfe Aargau

    Die Winterhilfe Aargau ist eine von 26 Kantonalorganisationen der Winterhilfe Schweiz. Organisiert ist die Winterhilfe Aargau als Verein und gewährleistet rasche und niederschwellige Hilfe. Der Vorstand der Winterhilfe Aargau ist ehrenamtlich tätig, die Geschäftsstellenleitung wird durch einen Mitarbeiter (40 Stellenprozente) gewährleistet. Weiter kann die Winterhilfe Aargau auf Unterstützung durch Freiwillige zählen. Die Winterhilfe Aargau zeichnet sich durch grosse Nähe sowohl zu den Hilfesuchenden wie zu den Spendern aus. Sie hilft mit finanziellen Zuwendungen und Sachleistungen, Notsituationen von Bewohnerinnen und Bewohnern des Kantons Aargau zu überbrücken. Jedes Hilfsgesuch wird von der Geschäftsstelle sorgfältig geprüft. Die Winterhilfe Aargau unterstützt in Situationen, in denen öffentliche Gelder nicht beansprucht werden können und arbeitet mit anderen sozialen Institutionen im Kanton zusammen. Sie verfolgt ein grosses Engagement im Bereich Familien, Weiterbildung und Altersarmut.

    www.winterhilfe.ch


    Regina Jäggi

    Der Werdegang von Regina Jäggi (62) ist spannend: Sie hat zwei Ausbildungen absolviert und einerseits das KV gemacht und andererseits sich als Kosmetikerin EFZ ausbilden lassen. Noch heute führt sie ihr Kosmetik- und Massagestudio in Aarau Rohr. Ab 1987 war Jäggi in Rohr Vorstand des Gewerbevereins, per Januar 1990 wurde sie in den Gemeinderat gewählt. Nach einer Amtsperiode machten die Rohrer sie 1994 zum Ammann, als allererste Frau im Bezirk. Von 2010 bis 2017 amtete die SVP-Politikerin als Stadträtin in Aarau. Seit 2017 ist sie Präsidentin der Winterhilfe Aargau und seit dem März dieses Jahres steht sie dem Forum der Älteren Region Aarau und Umgebung FORÄRA vor. Ebenso engagiert sie sich als Ortsvertreterin Pro Senectute in Aarau. Sie wohnt in Aarau Rohr.

    CR

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